Antriebe sind die Kernkomponente in der industriellen Produktion. Wo stehen wir aktuell, wenn es um die Themen Digitalisierung und Transparenz rund um elektrische Antriebe geht?
Meine Wahrnehmung ist, dass gerade im Bereich der Antriebstechnik in den letzten Jahren sehr viel passiert ist. Die Unternehmen haben sich stark diversifiziert. Viele Firmen bedienen bestimmte Nischen und haben sich beispielsweise auf die Nahrungsmittelindustrie oder Prozessindustrie spezialisiert. Die großen Player bedienen eher die Multi-Purpose-Themen. Neben der Fokussierung auf ein bestimmtes Kundensegment stand auch die Entwicklung vieler Tools rund um den elektrischen Antrieb nicht still. Im Zuge der Digitalisierung sind beispielsweise Projektionstools, Tools zum Energieverbrauch oder Tools für das Design des Antriebs entstanden. Diese Tools erleichtern es dem Anwender in der Praxis, den entsprechenden Antrieb zu planen und einzusetzen. Aber trotz der intensiven Forschungs- und Entwicklungsarbeit gibt es immer noch keinen gemeinsamen Standard für die Auswahl, die Inbetriebnahme, den Betrieb oder den Service von Antrieben. Das heißt, es ist für den Kunden immer noch sehr aufwändig, Antriebe unterschiedlicher Hersteller miteinander zu kombinieren. Hier sehe ich ein großes Potential für die Integratoren von elektrischen Antrieben. Wir brauchen offene Standards und interoperable Lösungen.
Aber auch, wenn wir einen Blick auf den Einsatz der entsprechenden Bussysteme werfen, hinken wir den digitalen Möglichkeiten hinterher. Es haben sich inzwischen zwar zwei bis drei Feldbussysteme durchgesetzt, aber die Integration ist alles andere als Plug & Play. In der Zusammenfassung heißt das, dass es aktuell die Situation vieler guter und kundenorientierter Lösungen einzelner Unternehmen gibt, aber immer noch ein gewisses Inseldenken vorherrscht. Unsere Aufgabe ist es nun, die Inseln zu verbinden und für Interoperabilität und gemeinsame Standards zu sorgen.
„Aktuell haben wir die Situation vieler guter und kundenorientierter Lösungen einzelner Unternehmen, aber es herrscht immer noch „Inseldenken“ vor. Wir müssen Schnittstellen standardisieren und internationalisieren.“
Prof. Dr.-Ing. Gerd Griepentrog
Das Konzept des digitalen Zwillings ist im Zusammenhang mit der Erforschung herstellerneutraler Lösungen von zentraler Bedeutung. Welchen Beitrag leistet der Standard der sogenannten Verwaltungsschale und ihrer Submodelle, wenn es um das Aufbrechen proprietärer Strukturen geht? Was sind hier besondere Herausforderungen aus Perspektive der Leistungselektronik?
Die Verwaltungsschale hat sich im Konsortium als der Standard für den digitalen Zwilling etabliert und wurde schon bei den Vorarbeiten, also im Rahmen des ZVEI-Projektes „Demonstrator Antrieb 4.0“ verwendet. Dort wurde erstmals die Interoperabilität elektrischer Antriebe als Industrie 4.0 – Komponente erprobt. Die Verwaltungsschale hat sich also als ein gutes und verlässliches Instrument für die digitale Repräsentation eines Assets bewährt, auch wenn es sicherlich noch andere Strukturen dafür gibt. Mit Hilfe der Verwaltungsschale kann ich den digitalen Zwilling für die Industrie 4.0 umsetzen und beispielsweise den gesamten Lebenszyklus von Geräten, Maschinen oder Anlagen digital abbilden. Sie ist der Frame des Ganzen und legt den Grundstein für eine herstellerübergreifende Interoperabilität und für gemeinsame Standards. Hier legen wir die Daten verschiedener Domänen für den digitalen Zwilling ab. Da geht es zunächst um einfache Dinge, wie beispielsweise die statische Beschreibung eines Antriebs, und wird dann zunehmend komplexer, wenn es um die Simulation einer Inbetriebnahme eines elektrischen Antriebs geht. Unser Ziel ist es nun, mit Hilfe der Verwaltungsschale einen vollständigen, virtuellen, digitalen Zwilling mit allen Domänen zu erreichen, um dort alle wichtigen Themen wie beispielsweise die Mechanik, die Elektrotechnik, die Thermik oder die Lebensdauer elektrischer Antriebe abzubilden. Als herausfordernd sehe ich, dass es inzwischen einige Firmen auf dem Markt gibt, die es in diesem Feld schon sehr weit gebracht haben. Wir müssen aufpassen, nicht überholt zu werden. Unsere Aufgabe ist es nun, die Daten der Antriebe in einem entsprechend standardisierten Format aufzubereiten und übergeben zu können. Und wir müssen für standardisierte Schnittstellen sorgen. Jedem Nutzer und jeder Nutzerin muss am Ende klar sein, was da genau hinterlegt ist, sonst vergleichen wir am Ende Äpfel mit Birnen. Und das ist alles andere als trivial.
Als Konsortialpartner sind sie maßgeblich an der Entwicklung des Reallabor-Demonstrators beteiligt. Können Sie uns darüber etwas mehr erzählen?
Mit unseren beiden Use Cases „Digitalisiertes Asset Management“ und „Energieeffiziente Auslegung von Antriebslösungen“ möchten wir dringend benötigte Lösungsansätze für mehr Effizienz, Nachhaltigkeit, Flexibilität und Kostenersparnisse liefern und diese prototypisch in dem Reallabor-Demonstrator umsetzen. Dafür und auch um unserem wissenschaftlichen Anspruch im Bereich der Leistungselektronik und Antriebsregelung gerecht zu werden, waren im Vorfeld erst einmal Forschungsarbeiten an verschiedenen Technologien notwendig. So haben wir uns zum Beispiel für Time Sensitive Networking (TSN) entschieden, um die deterministische Übertragung von zeitkritischen Daten in Ethernet-Netzen zu ermöglichen. Mit Hilfe dieser Technologie können wir eine sehr gute zeitliche Synchronisation von Antrieben gewährleisten und damit zum Beispiel bei Fehlermeldungen an der Werkzeugmaschine das Problem analysieren. Auch forschen wir gerade daran, wie wir die entsprechenden Daten, die dann für die Regelung des Antriebs verwendet werden, über Bussysteme führen können. Der Reallabor-Demonstrator wird am Ende aus elf kleineren Demonstratoren bestehen, in denen jeweils ein Antriebssystem von einer Firma mit einer Lastmaschine verbaut ist. Unsere assoziierten Partner bauen den Demonstrator im Laufe der Projektlaufzeit bei sich auf, übernehmen die Programmierung und Installation ihrer Software aber selbst, um möglichst viele Erfahrungen zu sammeln. Wir auf der Wissenschaftsseite sorgen dann für eine standardisierte Softwareschnittstelle. Die Ausrichtung an der Praxis ist wichtig, da sich viele Probleme erst bei realen Tests ergeben, wie beispielsweise bei der Verwendung unterschiedlicher Datenmodelle. Aber auch Themen wie Datensicherheit, Datenintegrität, Datenkapselung, Echtzeitfähigkeit oder Kostenoptimierung spielen eine wichtige Rolle. Alle Erfahrungen, Probleme und Lösungsansätze der Testlaufphase werden dann entsprechend beim Aufbau des standortübergreifenden, dezentralen Demonstrators berücksichtigt und allen Interessierten am Ende der Projektlaufzeit zugänglich gemacht. Übrigens werden wir hier an der TU Darmstadt noch zwei weitere Demonstratoren mit mehr Rechenleistung aufbauen, an denen wir Advanced-Funktionen implementieren können. Hier untersuchen wir beispielsweis Fragen zur Ausführung von Algorithmen in der Verbindung zwischen Cloud und Edge-Systemen.
Das Forschungsprojekt versteht sich auch als Türöffner für zukunftsfähige Geschäftsmodelle. Welche Chancen eröffnet dies besonders den kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU)?
Ich glaube, die kleinen und mittelständischen Unternehmen müssen bei allen Themen rund um die Digitalisierung am Ball bleiben, um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben. Auch als kleine Firma muss ich in der Lage sein, gewisse Standards zu liefern, weil die Kunden das inzwischen einfach erwarten. Sich auf seiner Kundschaft auszuruhen und zu glauben, mir kann als KMU nichts passieren, ist sehr gefährlich. Denn den Fall einer exklusiven Kundschaft, die nur ein bestimmtes Unternehmen als Lieferanten hat, gibt es heutzutage ja nicht mehr. Natürlich hoffen die KMUs auf die Lösungen aus unserem Projekt. Sie möchten wissen, wo die Reise hin geht, welche Möglichkeiten es gibt und welche Lösungen sich als perspektivisch sinnvoll erweisen und sie das dann entsprechend implementieren können. Auch wenn natürlich größere Firmen mit ihrer Marktmacht dominieren werden. Aber die KMUs können auf den im Projekt entwickelten Erkenntnissen aufbauen. Früher oder später werden die großen Player in der Antriebstechnik einen Industriestandard setzen. Aber auch die großen Player haben inzwischen verstanden, dass wir auf einen gemeinsamen Standard kommen müssen. Denn die Kunden möchten sich nicht immer von einem Lieferanten abhängig machen. Sonst würde so ein Projekt wie Antrieb 4.0 auch nicht zustande kommen.
„Auch kleinere Antriebstechnik-Hersteller werden sich mit Industrie 4.0 Methoden auseinandersetzen müssen, um an der Wertschöpfung weiter teilnehmen zu können und nicht zum reinen Hardware-Lieferanten degradiert zu werden.“
Prof. Dr.-Ing. Gerd Griepentrog
Aus Perspektive der Forschung, was sehen Sie als zentrale Herausforderungen für das Projekt Antrieb 4.0 aus politischer Sicht?
Auf politischer und internationaler Ebene sehe ich zwei Dinge als besonders kritisch. Wenn wir einen Blick auf die verschiedenen, politischen Verbände der Industrie werfen, sind wir da in Deutschland vielseitig unterwegs. Es gibt viele Industrie-Verbände, die an ähnlichen Themen arbeiten, am Ende aber nur unzureichend Synergien schaffen. Das kann zu konvergenten Lösungen führen. Die Verbandslandschaft muss die Kräfte deshalb entsprechend bündeln und den Weg einer themenübergreifenden Zusammenarbeit finden. Der zweite kritische Punkt ist das Thema Internationalisierung. Wir bedienen bei unserer Forschung und Entwicklung fast ausschließlich den deutschen Markt und lassen dabei völlig außer Acht, dass die meisten deutschen Firmen vom Export profitieren und international unterwegs sind. Wir müssen deshalb für internationale Standards sorgen, um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben. Auch gilt es zu bedenken, dass die großen Player wie Amazon oder Microsoft mit ihren mächtigen Datensystemen und KI-Algorithmen inzwischen auch die Produktionswelt für sich entdecken. Für dieses Szenario müssen wir gerüstet sein, um zu verhindern, dass ein Antriebs-Hersteller nicht zu einem reinen Hardwarelieferanten degradiert wird und die ganzen Datenschätze und damit die Marktmacht und das große Geschäft von reinen IT-Firmen abgegriffen werden. Wir müssen mit einem starken Forschungsverbund an tragfähigen, branchenübergreifenden Lösungen arbeiten und damit eine gewisse Schwungmasse in Gang bringen. Als problematisch stufe ich dabei ein, dass wir aber immer auf die 100 Prozent-Lösung warten. Bis wir die erreicht haben, ist es schon längst zu spät. Die normative Kraft des Faktischen kann hier durchaus helfen. Wir in Deutschland arbeiten Button-Up, die großen Player aus dem Silicon Valley eher Top-Down und wir müssen schauen, wo wir uns treffen.
Welche Fragen beschäftigen Sie aus technologischer Sicht?
Auf technischer Ebene und damit aus wissenschaftlicher Sicht müssen wir uns künftig die Frage stellen, wo welche Rechenoperationen ausgeführt werden können, um die Echtzeitfähigkeit und auch die Datenintegrität zu gewährleisten und den Datenverkehr zu beschränken. Und auch wenn es in Antrieb 4.0 jetzt zunächst vordergründig um Standardisierung und Interoperabilität geht, wird das Thema IT-Sicherheit im nächsten Schritt einen großen Stellenwert einnehmen. Denn je mehr Datenaustausch ich in meinem Unternehmen habe, umso mehr Möglichkeiten der Beeinflussung gibt es natürlich. Unternehmen müssen sich vor Hackerangriffen schützen können. Wichtig werden auch Plausibilitätsprüfungen rund um die elektrischen Antriebe. Weiterhin werden wir uns mit dem Thema Energie beschäftigen und uns beispielsweise überlegen, wie wir den Energiedurchsatz mit der Sensorik bestimmen können, um daraus dann wiederum Informationen zur Energieeffizienz des Antriebs ableiten zu können. Wichtig wäre beispielsweise auch die Frage nach dem Energieverbrauch der ganzen zusätzlichen IT für Industrie 4.0 und wie diese im Verhältnis zur potentiellen Energieeinsparung steht. Denn die Rechenleistung im Netz, in der Cloud, auf dem Edge-Computer oder auf dem Antrieb kostet in Summe viel Energie und damit heute auch CO2-Emission. Die Kenntnis des Optimums wäre aus meiner Sicht eine relevante wissenschaftliche Fragestellung, die es gemeinsam mit den Informatikern zu beantworten gilt. Energieeffizienz ist wichtig, aber im richtigen Maß und sollte solche IT-Verfahren auch rechtfertigen können. Diese und viele weitere Themen werden uns zukünftig in der Forschung sicherlich beschäftigen.
„Der Antrieb 4.0 bietet viel Potential für Energieeinsparungen und Reduzierung des Carbon Foot Prints, aber auch der Optimierung und Überwachung von Fertigungsprozessen. Allerdings gibt es auch da Grenzen, an denen der Einsatz von immer mehr Rechenleistung mehr Energie verbraucht als dadurch eingespart wird.“
Prof. Dr.-Ing. Gerd Griepentrog
Für den Anlagen- oder Maschinenbauer ist eine Menge Kleinarbeit notwendig, um alle die für die Inbetriebnahme einer Maschine oder Anlage richtigen Einstellungen zu finden. Welchen Beitrag leistet das Forschungsprojekt in diesem Kontext?
Mit Antrieb 4.0 verfolgen wir das Ziel, den Weg für standardisierte Daten eines Antriebs zu ebnen, der jederzeit identifizierbar ist. Das klingt erst einmal trivial, ist es aber nicht. Wenn Sie sich jetzt in einer großen Fabrik bewegen, haben Sie es mit tausenden von Antrieben zu tun, ggf. von verschiedenen Herstellern. Da den Überblick zu behalten, welcher Antrieb gerade läuft und interagiert, ist eine Mammutaufgabe. Heutzutage herrscht ja nach wie vor noch die geführte Inbetriebsetzung in den Unternehmen vor und diese sollte weiter automatisiert werden. Hier setzen wir mit Antrieb 4.0 an und möchten unter anderem für eine einfache, reibungslose automatische Inbetriebsetzung sorgen. Dabei geht es auch um Basiseinstellungen und die Fragen, wie und wann sich der Antrieb genau dreht. An dieser Stelle würde sich der Einsatz der Künstlichen Intelligenz übrigens gut eignen, gerade in Verbindung mit der Cloud. In diesem Szenario führt der Antrieb dann eine Aufgabe aus, diese wird dann in Form von Metadaten auf die Cloud hochgeladen und es besteht dann die Möglichkeit, auf Vergleichswerte von anderen Antrieben zurückzugreifen, um entsprechende Hinweise zu erhalten, was noch optimiert werden kann. KI-Algorithmen sind vorrangig Cloud-Themen. Das kann ich nicht auf dem Antrieb selbst rechnen. Bei Antrieben gilt es auch immer Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen. Wenn ein Antrieb plötzlich ungewollt anfängt, sich zu drehen, kann das katastrophale Folgen haben und Menschenleben gefährden. Die Antriebe mit Künstlicher Intelligenz zu koppeln, wäre aber eine sehr interessante Forschungsfrage, die ich mir sehr gut für ein Folgeprojekt vorstellen könnte.
Herr Griepentrog, wir danken Ihnen für das Gespräch!