Herr Prof. Dr. Schuster, Im Rahmen von Antrieb 4.0 soll eine modulare Service- und Marktplattform für smarte Produkt-Service-Systeme rund um den Antrieb 4.0 konzipiert werden. Können Sie uns etwas darüber erzählen?
Prof. Dr. Tassilo Schuster: Natürlich, gerne. Im Kern unseres Projektes geht es um die Entwicklung herstellerneutraler Lösungen für gemeinsame Herausforderungen im Bereich Antrieb 4.0. Das heißt, wir möchten die Verfügbarkeit, Transparenz und Interoperabilität von Daten steigern, um die Zukunft des Antriebssektors zu gestalten.
Um dies zu erreichen, müssen wir einige wichtige Schritte unternehmen. In einem ersten Schritt werden wir einen Datenraum etablieren, der den Grundsätzen der Gaia-X-Konformität entspricht. Gaia-X ist eine europäische Initiative zum Aufbau einer sicheren und vertrauenswürdigen Dateninfrastruktur, die für eine breite Palette von Anwendungen genutzt werden kann. Des Weiteren werden wir die technischen Rahmenbedingungen für eine herstellerunabhängige Kommunikation von Antriebssystemen definieren. Diese Informationen stellen wir dann standardisiert in dem Datenraum zur Verfügung. Der Einsatz unterschiedlicher KI- Methoden unterstützt dabei, Daten gezielt zu analysieren und Mehrwerte zu generieren.
Parallel setzen wir zukunftsweisende Use Cases prototypisch in einem Reallabor-Demonstrator um. Hier zeigen wir die horizontalen und vertikalen Vernetzungen sowie ein modulares Hardwarekonzept, das an verschiedenen Standorten kooperativ betrieben werden kann. Dies ermöglicht uns, die entwickelten Use Cases in der realen Welt erlebbar darzustellen und die Vorteile der entwickelten Lösungen für das gesamte Wertschöpfungsnetzwerk in einem vorwettbewerblichen Umfeld aufzuzeigen. Durch die Verallgemeinerung der IT-Infrastruktur, Tools und Data Analytics- und KI-Methoden können diese Modelle herstellerunabhängig eingesetzt und zwischen den Antriebssystemen übertragen werden.
Wichtig ist, eine standardisierte Vernetzung innerhalb der Antriebssysteme zu ermöglichen. Deshalb verwenden wir im Projekt einheitliche Datenübertragungstechniken und eine gemeinsame Sprache von der zentralen Steuerung über den Antrieb bis zum Sensor. Zusammengefasst geht es bei Antrieb 4.0 also darum, die Zukunft der Antriebstechnologie durch eine gemeinschaftliche und herstellerunabhängige Herangehensweise zu gestalten.
Das Thema Use Cases ist ein gutes Stichwort, denn diesen kommt im Forschungsprojekt eine besondere Bedeutung zu. Wie unterscheidet sich hier das Vorgehen im Gegensatz zu anderen Forschungsvorhaben?
Lara Schmidt: Im Unterschied zu vielen anderen Forschungsvorhaben haben wir bei der Auswahl der Use Cases einen ergebnisoffenen Ansatz verfolgt. Das heißt, die Anwendungsfälle wurden nicht von Anfang an in der Förderantragsphase festgelegt. Dies ermöglichte es, die vielfältigen Perspektiven der verschiedenen Akteure im Wertschöpfungsnetzwerk angemessen zu berücksichtigen. Und wir konnten sicherstellen, dass die ausgewählten Use Cases einen nachweisbaren Mehrwert für die Industrie bieten.
Unser erster Schritt bestand darin, potenzielle Use Cases zu identifizieren, die nicht nur ökonomischen, sondern auch ökologischen Mehrwert bieten. Dies haben wir durch umfassende Datenbankrecherchen, Desk Research und Ideation-Workshops in Zusammenarbeit mit unseren assoziierten Partnern erreicht.
Im zweiten Schritt haben wir Definement-Workshops organisiert, um eine einheitliche Beschreibung der Use Cases zu entwickeln, die sinnvolle Parameter umfasste. Dies war entscheidend, um sicherzustellen, dass alle Beteiligten ein klares Verständnis für die Use Cases hatten.
Daraufhin erfolgte eine Vorauswahl der erstellten Long List von insgesamt 36 Use Cases durch unsere Verbundpartner. Dabei lag der Fokus besonders auf der wissenschaftlichen Neuartigkeit und den Forschungsinteressen unserer Partner.
Schließlich bewerteten wir die reduzierte Long List der Use Cases mithilfe einer Online-Umfrage unter Antriebsherstellern, Maschinen- und Anlagenbauern sowie Anlagenbetreibern. Dieser Schritt stellte sicher, dass die ausgewählten Use Cases von allen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette als nutzbringend angesehen wurden. Wir priorisierten diejenigen Use Cases, die den höchsten ökonomischen und ökologischen Nutzen versprachen. Besonders aufschlussreich war die Erkenntnis, dass die Einschätzungen der Antriebshersteller oft erstaunlich ähnlich zu den Einschätzungen der Maschinenbauer und Anlagenbetreiber waren. Das gibt uns Zuversicht, dass wir im weiteren Verlauf des Projekts durch Diskussionen mit unseren assoziierten Partnern auch die Bedürfnisse der Maschinen- und Anlagenhersteller sowie der Anlagenbetreiber angemessen berücksichtigen können.
Das heißt, es steht schon fest, welche Use Cases am Ende das Rennen gemacht haben? Wie viele werden denn im Projekt umgesetzt?
Prof. Dr. Tassilo Schuster: Ja, die Anzahl der Use Cases stehen nun fest. Insgesamt werden sieben Fallbeispiele bis zum Ende des Projektes umgesetzt. Dabei haben wir zwischen den Kategorien High-Priority Use Cases und Enabling Use Cases unterschieden. Basierend auf unserem systematischen Bewertungs- und Auswahlprozesses wurden zwei High-Priority Use Cases ‚Ganzheitliche energieeffiziente Auslegung von Antriebslösungen‚ und ‚Digitalisiertes Asset Management‚ für unser Forschungsprojekt Antrieb 4.0 ausgewählt. Hierbei werden innovative Ansätze zur Verbesserung der Energieeffizienz von Antrieben entwickelt und mit einem digitalisierten Asset Management die Voraussetzungen für eine umfassende digitale Verwaltung und Überwachung von Antriebskomponenten und -systemen geschaffen. Zusätzlich haben wir die Entscheidung für fünf Enabling Use Cases ‚Erfassung und Visualisierung von hochauflösenden Signaldaten‚, ‚Diagnose Logbuch – Der erweiterte Fehlerspeicher‘, ‚Externe Smarte Sensorik zur Erweiterung der Datenbasis‘, ‚Elektronisches Leistungsschild mit Industrie 4.0-Funktionalität‘ und ‚User spezifischer Zugriff auf Daten im Datenraum durch Authentifizierungsmanager‘ getroffen. Diese unterstützen die Umsetzung der High-Priority Use Cases, indem sie die erforderlichen Daten- und Kommunikationstechnologien bereitstellen. Unsere Arbeit konzentriert sich nun darauf, innovative Lösungen zu entwickeln, die die Energieeffizienz und die Verfügbarkeit von Antriebssystemen verbessern und gleichzeitig die Wartung und den Betrieb optimieren. Diese Anwendungsfälle sind entscheidend für die Weiterentwicklung des Antrieb 4.0-Konzepts und haben das Potenzial, die Industrie maßgeblich zu transformieren.
Interessierte Unternehmen haben aber nach wie vor die Möglichkeit, bei der Auswahl der Use Cases ihre Stimme und Einschätzung abzugeben?
Lara Schmidt: Ja, die Möglichkeit zur Beteiligung der Unternehmen an der Auswahl der Use Cases besteht nach wie vor. Wir schätzen die kontinuierliche Einbindung der Unternehmen und ihre Beurteilung sehr. Ihre Stimmen und Perspektiven sind äußerst wertvoll für unsere Forschungsarbeit. Daher haben wir Mechanismen eingerichtet, die es den Unternehmen ermöglichen, auch weiterhin aktiv an diesem Prozess teilzunehmen und ihre Einschätzungen einzubringen. Auf diesem Weg stellen wir sicher, dass unsere Stichprobe möglichst repräsentativ ist.
Werfen wir zum Schluss einen Blick auf die Branche allgemein. Wie schätzen Sie denn das Potential solcher Use Cases für die Industrie ein? Inwieweit können besonders die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) davon profitieren?
Frau Schmidt: Das Potential dieser Use Cases für die Industrie ist ausgesprochen vielversprechend. Sie bieten die Möglichkeit, die Leistung, Effizienz und Nachhaltigkeit von Antriebssystemen erheblich zu verbessern. Dies kann sich positiv auf die gesamte Wertschöpfungskette der Industrie auswirken, angefangen bei der Herstellung von Antriebskomponenten bis hin zur Nutzung in Maschinen und Anlagen.
Prof. Dr. Tassilo Schuster: Besonders für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) eröffnen sich hier wichtige Chancen. Die Implementierung von energieeffizienten Antriebslösungen und digitalen Asset-Management-Systemen kann dazu beitragen, die Betriebskosten zu senken, die Produktivität zu steigern und die Wartung zu optimieren. Dies sind entscheidende Faktoren, um wettbewerbsfähig zu bleiben und gleichzeitig nachhaltiger zu agieren.
Die Herstellerunabhängigkeit und Standardisierung dieser Lösungen ermöglichen es KMUs, sich schnell mit den Systemen vertraut zu machen, ohne auf verschiedene proprietäre Lösungen unterschiedlicher Hersteller zurückgreifen zu müssen. Dies reduziert die Eintrittsbarrieren und unterstützt KMUs dabei, von den Vorteilen von Industrie 4.0 und Antriebs 4.0 zu profitieren.
Prof. Dr. Tassilo Schuster und Lara Schmidt, wir danken Ihnen sehr für das Gespräch!
Lara Schmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe für Supply Chain Services des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS. Ihr gegenwärtiges Forschungsinteresse liegt in der Entwicklung zirkulärer Lösungen mithilfe von digitalen Technologien. Hierfür bringt Sie ihren Background als Wirtschaftsingenieurin mit Schwerpunkten auf Industrie 4.0/digitalisierte Wertschöpfung, Supply Chain Management und Nachhaltigkeit ein.
Prof. Dr. habil. Tassilo Schuster ist Senior Project Manager und Chief Scientist der Arbeitsgruppe für Supply Chain Services des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS. Seine gegenwärtigen Fokusthemen umfassen unter anderem datenbasierte und zirkuläre Geschäftsmodelle, Plattformökonomie und nachhaltige Wertschöpfungsnetzwerke.